VdS-Schadenverhuetung News

Ein Kommentar von Dipl.-Ing. Claas Baier, Leiter der Technischen Prüfstelle bei VdS Schadenverhütung, Köln, aus dem s+s report 04/2022

Bei Abweichungen von der Regel trägt letztlich der Sachverständige das Risiko

In seinem Kommentar „Lassen Sie uns wieder Ingenieure sein!“ (s+s report 3/2022) richtet Herr Dietrich einen Appell an alle im Plan-, Genehmigungs- und Abnahmeverfahren Beteiligten, den Sachverstand einzuschalten und in begründeten Fällen von dem „Diktat von Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und sonstigen Regelwerken“ abzuweichen.

So sehr ich als Ingenieur diese Vorgehensweise unterstütze und begrüße, muss ich als Bereichsleiter der Technischen Prüfstelle die aktuelle Situation differenzierter betrachten.

Die Aufgabe eines Prüfsachverständigen ist es, zu beurteilen, ob die Wirksamkeit und Zuverlässigkeit einer brandschutztechnischen Einrichtung gegeben ist. Hierzu werden sowohl die baurechtlichen als auch die erforderlichen technischen Regelwerke als Grundlage herangezogen.

Bereits an dieser Stelle fängt das Dilemma an. Insbesondere im anlagentechnischen Brandschutz geben die entsprechenden Regelwerke Parameter für die Dimensionierung der Anlagen vor. Diese Parameter werden in Normungsgremien festgelegt oder über Versuche bestimmt. Wer in diese Prozesse nicht involviert ist, kann bei Abweichungen nur schwerlich die Auswirkung auf das System und damit auf die Wirksamkeit beurteilen.

VdS Schadenverhütung publiziert eigene Regelwerke und ist somit sehr gut in der Lage, Abweichungen zu beurteilen. Es ist die Aufgabe unserer Mitarbeitenden, unsere Kunden bei speziellen Anforderungen bei der Lösungsfindung zu unterstützen. Jedes Regelwerk gibt für die allermeisten Standardfälle Lösungen vor, darauf aufbauend müssen für die Abweichungen spezielle Lösungen formuliert werden. Hierbei werden in der Regel Kompensationsmaßnahmen definiert, um sicherzustellen, dass die Wirksamkeit und Zuverlässigkeit des Systems trotz der Abweichung gegeben ist.

Auch wenn durch jahrzehntelange Expertise auf diesem Gebiet die Wahrscheinlichkeit eines durch die Abweichungen bedingten Schadens als äußerst gering eingestuft werden kann, kann er aber auch nicht ausgeschlossen werden. Gegebenenfalls ist noch nicht einmal die Abweichung von den technischen Regelwerken ursächlich für den Schaden, es stellt sich im Falle eines Schadens trotzdem die Frage: „Was wäre passiert, wenn ...“

Und hier unterscheiden sich die Ansichten von Juristen und Ingenieuren. Im Plan-, Genehmigungs- und Abnahmeverfahren werden mit entsprechender Expertise Festlegungen getroffen, die den baurechtlichen Anforderungen entsprechen und einen Sach- oder Personenschaden verhindern sollen. Kommt es zu einem Schaden, gilt es, die Frage zu klären, warum die getroffenen Maßnahmen nicht ausgereicht haben, den aufgetretenen Schaden zu verhindern. Da  die Betrachtung im Nachgang erfolgt, sind die in einem möglichen Gerichtsverfahren Beteiligen im Vorteil, da keine hypothetische Betrachtung erfolgt – „Was muss ich alles tun, um einen Schaden zu verhindern?“ –, sondern ein real aufgetretener Schaden betrachtet wird – „Warum ist es zu dem Schaden gekommen?“

Insbesondere Abweichungen von allgemein anerkannten Regeln der Technik unterliegen mit Sicherheit einer kritischen Betrachtung des Gerichts.

Ergänzend sei angemerkt, dass selbst eine 1:1-Umsetzung aller Anforderungen nicht ausreichend sein muss. In einigen Gerichtsurteilen ist durch das jeweilige zuständige Gericht bereits festgestellt worden, dass Maßnahmen erforderlich gewesen wären, die über die Anforderungen von Vorschriften und Normen hinausgehen, damit der aufgetretene Schaden hätte verhindert werden können.

Zusammenfassend kann aus meiner Sicht gesagt werden, dass ein Abweichen von den baurechtlichen Vorgaben sowie den technischen Regelwerken, auch wenn begründbar und technisch nachvollziehbar, durchaus ein Risiko beinhaltet. Dieses Risiko steigt massiv an, wenn die genannten Grundlagen Lücken aufweisen.

Als Beispiel möchte ich hier die Anforderungen der Grundsätze für die Prüfung technischer Anlagen nennen. [1] Sie legen Umfang und Inhalt der Sachverständigenprüfungen fest; zumindest in einem groben Rahmen. Für automatische Löschanlagen besteht nach diesen Grundsätzen kaum die Möglichkeit, im Falle einer Wiederholungsprüfung den Prüfumfang zu reduzieren bzw. eine Stichprobenprüfung durchzuführen. Dies entspricht nicht der Praxis, da im Zuge einer Wiederholungsprüfung Teilbereiche gegebenenfalls gar nicht eingesehen werden können (z. B. geschlossene Zwischendecken) bzw. eine vollumfängliche Besichtigung aller Bereiche technisch nicht erforderlich und wirtschaftlich nicht zu vertreten ist. Auch wenn die Verordnungen es zulassen, den Prüfumfang festzulegen, kann im Falle eines eingetretenen Schadens schnell die Frage aufkommen, warum nun ausgerechnet diese Bereiche nicht besichtigt wurden – es ist ja schließlich ein Schaden aufgetreten ... Das Risiko einer Abweichung von den baurechtlichen Vorgaben trägt somit letztendlich der Prüfsachverständige, wobei bei reinen Sachschäden das finanzielle Risiko auf eine Haftpflichtversicherung übertragen werden kann.

Ich schreibe diese Zeilen in erster Linie, weil VdS in einem einschlägigen Gerichtsverfahren auch in zweiter Instanz unterlegen ist. Die Begründung des Gerichts ist in verschiedener Hinsicht für VdS nicht nachvollziehbar und stellt die bisherige Praxis der Prüfsachverständigkeitentätigkeit in Frage.

Daher wird das angesprochene Gerichtsurteil am 7.12.2022 ein Thema der Fachtagung "Feuerlöschanlagen" auf den VdS-BrandSchutzTagen sein. In einem Vortrag werden wir das Schadenszenario, das Urteil und insbesondere die Begründung des Gerichts vorstellen. Ich lade alle Fachtagungsteilnehmenden herzlich ein, an der anschließenden Diskussion teilzunehmen.

(Über den Sachverhalt informiert auch ein Beitrag im selben Heft, s+s report Ausgabe 4/2022.)

 

Zusätzlicher Hinweis: Beim VdS-BrandSchutzTalk am 7.12.2022 im Rahmen der VdS-BrandSchutzTage in Köln werden Claas Baier und  Matthias Dietrich sowie Stefan Koch, Kanzlei für Baurecht und Brandschutz, Köln, und Knut Czepuck, Oberste Bauaufsicht NRW, Düsseldorf, dieses Themenfeld diskutieren. Als Messebesucherin/-besucher können Sie live dabei sein!

 

 

[1] Grundsätze für die Prüfung technischer Anlagen entsprechend der Muster-Prüfverordnung durch bauaufsichtlich anerkannte Prüfsachverständige (Muster-Prüfgrundsätze); Stand 26.11.2010


Dipl.-Ing. Claas Baier ist Leiter der Technischen Prüfstelle bei VdS, Köln, und damit verantwortlich für mehr als 180 Sachverständige
in Deutschland.

Kontakt: cbaier[at]vds.de

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