VdS-Schadenverhuetung News

Ein Kommentar von Dipl.-Ing. Matthias Dietrich, Prüfsachverständiger bei Rassek & Partner Brandschutzingenieure aus dem s+s report 03/2022

Lassen Sie uns wieder Ingenieure sein!

Vorschriften bestimmen unseren Alltag. Wie in allen unseren Lebensbereichen gilt dies auch für die brandschutztechnischen Belange. Die hier einschlägigen Rechtsquellen sind höchst unterschiedlich. Hierbei handelt es sich zunächst um die Landesbauordnungen, die Verordnungen für Sonderbauten und die zahlreichen Richtlinien, die als technische Baubestimmungen oder als allgemein anerkannte Regel der Technik zu beachten sind. Hinzu kommen die ungezählten technischen Regelwerke, die als Normen oder sonstige Richtlinien durch verschiedenste Institutionen erarbeitet und veröffentlicht werden.

Unsere fachliche Arbeit wäre unmöglich, wenn wir in unserer Praxis nicht auf diese technischen Regelwerke zurückgreifen könnten. Wie möchte man beispielsweise die Parameter einer Brandmeldeanlage abschließend und vollständig beschreiben, ohne auch nur Bezug auf eine einzige normative Grundlage zu nehmen? Unbestritten können wir stolz auf die technischen Regelwerke sein, die uns ein hinreichendes Sicherheitsniveau garantieren und gleichzeitig zielgerichtete Fachplanungen und Ausschreibungen ermöglichen.

In meiner beruflichen Tätigkeit stelle ich jedoch fest, dass ein Diktat von Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und sonstigen Regelwerken zunehmend zum Bremsklotz unserer fachlichen Arbeit wird. Das ist weniger dem Inhalt dieser Bestimmungen geschuldet als der Tatsache, dass diese häufig unreflektiert und ohne die erforderliche fachliche Bewertung übernommen und angewendet werden.

Dies ist allein schon deshalb verwunderlich, da alle Regelwerke in der Welt des Brandschutzes grundsätzlich auch ein begründetes Abweichen gestatten. Gemäß Musterbauordnung kann beispielsweise die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen zulassen, wenn sie mit dem Schutzziel der jeweiligen Anforderung vereinbar sind. Ferner können bei Sonderbauten Erleichterungen gestattet werden, soweit es der Einhaltung von Vorschriften nicht bedarf. Auch von den in den Technischen Baubestimmungen enthaltenen Planungs-, Bemessungs- und Ausführungsregelungen kann grundsätzlich abgewichen werden, wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die Anforderungen erfüllt werden und in der Technischen Baubestimmung eine Abweichung nicht ausgeschlossen ist.

Allein an diesen Beispielen wird deutlich, dass sich die Verfasser der Musterbauordnung durchaus bewusst waren, dass die konkreten (Brandschutz-)Vorschriften nicht unreflektiert auf alle Bauvorhaben übertragen werden können. Das Musterkonzept der Bauordnung und gleichfalls auch der Verordnungen für Sonderbauten bedarf daher in der Regel einer projektbezogenen Betrachtung. Es ist hierbei üblich und gewollt, dass Wege beschritten werden, die von den einschlägigen Vorschriften des Bauordnungsrechtes abweichen. Selbstverständlich darf das behördlich geschuldete Sicherheitsniveau hierbei nicht unterschritten werden. Zu diesem Ziel führen jedoch in der Regel mehrere Wege. Diese Wege zu definieren, ist Aufgabe einer Brandschutzfachplanung.

Der Maßstab „keine Regel ohne Ausnahme“ gilt gleichermaßen auch für die zahlreichen technischen Regelwerke hinsichtlich der Planung von sicherheitstechnischen Anlagen und Einrichtungen. Auch hier ist eine abweichende Ausführung zulässig, wenn der konkrete Einzelfall dies erfordert. Eine zielgerichtete Fachplanung verlangt zwangsläufig auch dahingehend eine Überprüfung, ob es im vorliegenden Fall Lösungen jenseits der üblichen Bestimmungen gibt. Dies ist insbesondere schon deshalb erforderlich, da gelegentlich nicht von der Hand zu weisen ist, dass einzelne Passagen eines technischen Regelwerkes primär der Verkaufsförderung und weniger der Sicherstellung eines hinreichenden Schutzniveaus geschuldet sind.

Die Notwendigkeit einer Überprüfung des Inhalts und Umfangs der technischen Regelwerke hinsichtlich des Brandschutzes gilt umso mehr für Umbauten in bestehenden Gebäuden. Anlass zur Sorge gibt die Beobachtung, dass es inzwischen zahlreichen Bauherren wirtschaftlicher erscheint, ein Bestandsgebäude unangetastet zu lassen, als es zu sanieren oder einer neuen Nutzung zuzuführen. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, dass Änderungen eines Gebäudes häufig einen Umfang an (brandschutztechnischen) Nachrüstungen erfordern, der für viele wirtschaftlich nicht tragbar ist. Ursache dieser Fehlentwicklung ist nicht selten die Vorgabe, dass auch bei Änderungen von bestehenden Gebäuden „unverhandelbar“ alle bauordnungsrechtlichen Anforderungen und auch alle aktuellen technischen Regelwerke vollumfänglich umzusetzen sind.

Dieser Anspruch kann nicht richtig sein. Schließlich begnügen wir uns bei rechtmäßig errichteten Gebäuden regelmäßig (und ohne schlechtes Gewissen) mit einem reduzierten Sicherheitsniveau. Sollten wir diese Akzeptanz nicht auch an den Tag legen, wenn es darum geht Baudenkmäler zu erhalten, Wohnraum zu schaffen oder bestehende Gebäude ressourcenschonend einer neuen Nutzung zuzuführen?

Die Fachplanenden aller Gewerke (und mit ihnen auch die prüfenden Instanzen) sind daher dazu aufgerufen, stets im Blick zu haben, ob es auch Wege jenseits der üblichen Vorschriften gibt, die im konkreten Einzelfall zum Ziel führen. Das bloße Abschreiben der einschlägigen Bestimmungen wird hierbei in der Regel nicht dem Anspruch einer ingenieurmäßigen Arbeit gerecht. Gefragt sind projektspezifische Lösungen, die häufig nicht nur wirtschaftlicher sind, sondern in aller Regel unter dem Strich sogar ein höheres Sicherheitsniveau als die Standardlösung bieten.

Das maßgeschneiderte Brandschutzkonzept eines spezialisierten Fachplaners stellt hierbei den ersten grundlegenden Schritt dar. Doch auch die Fachplaner und die Prüfer der sicherheitstechnischen Anlagen und Einrichtungen sind dazu aufgerufen, – dort, wo erforderlich – von technischen Regelwerken abzuweichen.

Häufig erfüllen wir den Anspruch einer wirksamen und zugleich wirtschaftlichen Brandschutzkonzeption nur mit einzelfallbezogenen Lösungen. Hierbei ist es offensichtlich, dass die Ersteller und die Prüfer von Brandschutzkonzepten Hand in Hand mit den Planern und Prüfern der sicherheitstechnischen Anlagen und Einrichtungen arbeiten müssen. Das häufig zu beobachtende „Schwarze-Peter-Spiel“, bei dem Zuständigkeiten und Verantwortung (auf Kosten der Bauherrenschaft) jeweils dem Gegenüber zugeschoben werden, führt nicht zum Ziel. Im Übrigen entspricht dies auch nicht dem Selbstverständnis einer Ingenieursdisziplin. Es ist schließlich unsere gemeinsame Aufgabe, die unterschiedlichen fachlichen Kompetenzen der verschiedenen Beteiligten zu einem funktionierenden Ganzen zu verknüpfen. Miteinander statt Gegeneinander muss hier die Devise sein.

Häufig reagieren wir auf die umfangreichen Vorgaben der zahlreichen brandschutztechnischen Bestimmungen mit einer „Normenhörigkeit“. Viel zu oft wird ungeprüft auf technische Regelwerke verwiesen, ohne zuvor die Verbindlichkeit, den konkreten Sinn der Anwendung oder alternative Ausführungsvarianten überprüft zu haben.

Lösen wir uns also – dort, wo zielführend – von diesem Diktat. Lassen Sie uns wieder Ingenieure sein!

 

Dipl.-Ing. Matthias Dietrich ist Prüfsachverständiger für den Brandschutz. Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten bei Rassek & Partner Brandschutzingenieure in Wuppertal und Würzburg zählen der Brandschutz in historischen und denkmalgeschützten Gebäuden sowie die Prüfung von Konzepten und Nachweisen für komplexe Sonderbauten.

Kontakt: info@brandschutzbuero.de

 

Der Kommentar erscheint in der VdS-Fachzeitschrift s+s report, Ausgabe 3/2022 (Erscheinungstermin 19.9.2022): https://shop.vds.de/publikation/ss-report

 

Hinweis von VdS in eigener Sache:

Schon jetzt sei verraten, dass Claas Baier, Bereichsleiter der Technischen Prüfstelle bei VdS Schadenverhütung, in Ausgabe 4/2022 des s+s reports einige ergänzende Gedanken zum Gastkommentar von Matthias Dietrich teilen wird.

Claas Baier wird zudem am 7. Dezember auf der Fachtagung „Feuerlöschanlagen“ im Rahmen der VdS-BrandSchutzTage 2022 zum Spannungsfeld Regelwerke, Tätigkeit von Prüfsachverständigen und Gerichtsurteile sprechen. Anlass ist ein aktuelles Gerichtsverfahren gegen einen Prüfsachverständigen. In seinem Vortrag wird Herr Baier das Schadensszenario, das Urteil und insbesondere die Begründung des Gerichts erläutern. Falls Sie an der Fachtagung teilnehmen, dürfen Sie gespannt sein – und wir freuen uns, wenn Sie sich an der anschließenden Diskussion beteiligen!

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